Es war einmal auf dem Tillenberge vor vielen, vielen Jahren eine große, reiche Stadt. Bis nach Neualbenreuth, Grafengrün und Maiersgrün sollen Wege hinabgelaufen sein. Feinhörige Leute vernehmen immer noch aus den Tiefen des Berges menschliche und tierische Laute. Die Tillenstadt war eine weit ausgebreitete, mächtige Stadt mit hohen Mauern, zahlreichen Patrizier- und Kirchtürmen. Das Glockengeläut der herrlichen Gotteshäuser erscholl weit in die Gaue diesseits und jenseits des Berges.
Die Einwohner dieser geheimnisvollen, goldgleißenden Stadt gingen in Samt und Seide. Die Gewänder der Frauen waren mit Gold- und Silberborten verziert. Die Männer trugen glitzernde Waffen, und in kostbaren Goldketten schritten sie auf samtroten, granatgepflasterten Wegen zum Gotteshaus und zum Rathaus. Die reichsten Bürger dieser Stadt waren Bergwerksbesitzer, Gold- und Waffenschmiede, Edelsteinschleifer und Kaufleute. Zu den Ärmeren zählten die Handwerker, die Gesellen, die Knechte und Mägde.
Doch je reicher die Bewohner wurden, um so geiziger und hartherziger führten sie sich auf. Denn das Gold und die Edelsteine, die sie dem Berginneren abgerungen hatten, verführten sie zu Wohlleben und Mordgier. Die Untergebenen quälten sie grausam und herzlos. Knechte und Mägde wurden wie Leibeigene behandelt und sittlich missbraucht. Der Fluch dieser Gedemütigten häufte sich und das Unheil schlich auf Katzenpfoten immer näher heran.
Für ihre Wege und Straßen taten die geizigen Tillenbürger außerhalb der Stadt so gut wie nichts. Überall klagten Fuhrleute über die beschwerliche Zufahrt. Die Flüche dieser Männer wurden immer heftiger und lauter, besonders dann, wenn die Räder der ächzenden Karren brachen oder im Schlamm versanken.
Einmal fuhr ein schwerer Wagen, voll mit wertvollen Tuchen, der Stadt zu. Dem mürrischen Fuhrmann glänzten schon von weitem die Zinnen der Stadt entgegen. Aber je näher er dem Ziel kam, umso beschwerlicher wurde der Weg. Ungeduldig hieb er auf die schweißtriefenden Pferde ein. Immer wieder musste er rasten, denn die Rösser waren mehr als erschöpft. Zum Schluss brach eine Achse, und die gesamte Ladung fiel in den Schmutz des Straßengrabens. Einen Augenblick stutzte der Fuhrmann, dann aber ballte er die Faust gen Tillenstadt und stieß mit furchterregender Stimme gellend folgenden Fluch aus:
„O du dreimal vermaledeite Stadt! Du Sitz des Lasters, du Sündenpfuhl mit deinem höllischen Geschlecht! Wenn du nur gleich in den Erdboden versinken würdest mit deinem ganzen Reichtum und deinen nichtswürdigen Menschen!“
Kaum waren diese Worte seinem Mund entflohen, da ertönte ein furchtbarer Donnerschlag, und der Tillen hüllte sich in eine dichte Nebelwolke. Danach aber war die Stadt verschwunden, in die unendliche Tiefe des Berges versunken.
Sie blieb es und bleibt es, heißt es in einer alten Prophezeiung, bis nach vielen Jahren ein Lastwagenfahrer vor den Häusern der ehemaligen Stadt Eger stehen wird, sie anhupt und sagt:
„Hier ist die Egerstadt gestanden. Sie gibt es nicht mehr!“ In dieser Zeit, in der die Egerstadt ganz verschwunden ist, wird die Tillenstadt am Fuße des Berges in ihrem ganzen früheren Glanz aus der Tiefe des Berges neu auftauchen und wie vor undenklichen Zeiten über die Gaue diesseits und jenseits des Tillen erstrahlen und Menschen anlocken, die glücklich und zufrieden hier leben können.
Eine alte Sage, neu empfunden von Lorenz Weiß