Die Sage vom Granatbrunnen

Wie ein mächtiger Riese breitet sich der Tillen-Berg bei Neualbenreuth vor mir aus. Auf weichem, grasbewachsenem Steig führt der Weg aufwärts. Hohe Tannen und moosbewachsene Fichten recken ihre Wipfel hoch in den Himmel. Durch’s Geäst huschen einzelne Sonnenstrahlen, sie rühren wie mit einem Zauberstab an die kräftigen Stämme und tauchen diese an einigen Stellen in goldenes Licht. Auf dem braunen, nadelbesäten Waldboden tanzen ein paar Sonnenflecken. Still und abgeschieden ist es hier, nur ab und zu dringt der Schrei des Eichelhähers an mein Ohr. Höher und höher führt der Pfad, unmittelbar an der böhmischen Grenze entlang.

Horch, was ist das? Ein Bächlein plätschert den Berg hinab. Es lädt zum Verweilen ein. Das Quellchen ist bald gefunden, munter sprudelt es in einem kleinen Becken. Dichte grüne Farnbüschel säumen das sandige Ufer und halten Wache über das klare Wasser. Da fällt mein Blick auf eine Granitfelsplatte am Waldboden mit der Aufschrift: Granatbrunnen. Eine Sage aus alten Tagen kommt mir in den Sinn: sie erzählt von einem Steinmetz aus Eger, der seiner Lebtag gern zu großem Reichtum gekommen wäre. Seinen flinken Äuglein entging nichts und um jede Neuigkeit zu erfahren, lauschte er stets mit gespitzten Ohren. So vernahm er schon bald die Kunde von herrlichen Granatsteinen, die sich am Tillen-Berg befinden sollten. Er ließ alles stehen und liegen und war erst zufrieden, als er mit Hacke und Schaufel ausgerüstet an Ort und Stelle stand. Hastig versuchte er dem granitenen Fels die Steine zu entlocken. Doch der Schweiß kommt vor dem Preis, das mußte der Steinmetz nicht zu knapp erfahren. Sein schweißtriefendes Gesicht und seine schwieligen Hände verrieten ungezählte Stunden harter Arbeit und noch immer wollte sich kein Steinchen zeigen. Da, als er nahe daran war, sein Vorhaben aufzugeben, entdeckte er plötzlich ein rötliches Funkeln im Gestein und mit einemmal war seine Müdigkeit wie weggeblasen. Es dauerte nicht lange und der ersehnte Granat lag in seinen Händen. Seine Freude darüber kannte keine Grenzen. Während er ihn mit seinen großen Händen liebevoll koste und von allen Seiten betrachtete, dachte er bei sich: wo einer ist, da müssen noch mehrere sein! So stürzte er sich voller Tatendrang wieder in die Arbeit und vergaß darüber Raum und Zeit.

Es war stockdunkel, als der erschöpfte Steinmetz endlich seinen Weg gen Eger antrat. Bis in seine Träume verfolgte ihn der funkelnde Granat und beim ersten Hahnenschrei lenkte er bereits seine Schritte abermals zum Fundort! Und, o Glück! Ein zweiter und dritter Stein, kamen zum Vorschein und zu guter Letzt lachte Ihn ein Häuflein der prächtigsten Granaten an. Ein tiefer Brunnen, der sich ganz in der Nähe befand, schien ihm das geeignete Versteck dafür zu sein. Sogleich stieg er, den engen Schacht bis zu seinem Grunde hinab und verbarg die kostbaren Funde, damit sie von niemanden gesehen und gestohlen werden könnten. Mit jedem weiteren Stein aber wuchsen Gier und Habsucht in ihm. Fortan kreisten seine Gedanken nur noch um den Berg und er schwor sich, nicht ihr davon ab zu lassen, bis er ihm auch den letzten Brocken entrissen hätte. Um die Arbeit voranzutreiben weihte er seinen getreuen Knechten das Geheimnis ein und von Stund‘ an sah man die Beiden wie besessen am Fels schlagen und klopfen.

Jahre gingen in’s Land, und der verblendete Steinmetz sah sich bereits am Ziel seiner Wünsche: im Brunnen lag eine ungeheure Menge Granaten, so viele, daß man ein ganzes Fuhrwerk damit hätte beladen können . Voller Gier wühlte er von morgens bis abends darin herum und hütete den Schatz wie seinen Augapfel. 

Es war zur Osterzeit, als ihr einsehen mußte, daß er keine Steine mehr ausfindig machen konnte. Wie bringe ich meine Granaten ungesehen unter Dach und Fach? Dieser Gedanke raubt ihm die Ruhe bei Tag und Nacht. Urplötzlich fiel ihm der Ostergottesdienst ein, zu dem sich das Egerer Volk versammelte, um die Auferstehung des Herrn zu begehen. Er selbst gedachte der religiösen Feier fern zu bleiben und währendderselben seine Steine nach Hause zu fahren; denn der Geizhals wollte von seinem Reichtum niemanden etwas zukommen lassen. So befahl er am heiligen Ostersonntag seinem Knecht: „Lauf nach Eger, so schnell dich die Beine tragen und komm‘ mit einem Pferdewagen zurück!“ Der Knecht tat, wie ihm befohlen, er selbst schlurfte die glatte Brunnenwand abwärts und ordnete unterdessen seine Granaten. Erschrocken fuhr er hoch, es war ihm als hätte er eben das Läuten der Osterglocken gehört. Da fegte ein Windstoß um den Brunnen, zuckende Blitze und dumpfes Grollen folgten. Schwarze Wolken legten sich wie ein Schleier über den Tillen-Berg, und aus der Tiefe des Brunnens drangen dicke Rauchwolken. Der gottlose Steinmetz versuchte in seiner Verzweiflung den Brunnenrand zu erreichen, doch diese stürzte unter ohrenbetäubendem Krachen zusammen und begrub ihn samt seinen schätzen unter den Erdmassen .

Wenn einst die Zeit gekommen ist, da der Berg keine Granaten mehr haben wird, schlägt für ihn die Stunde der Erlösung. Der Brunnen aber wird seit jener Zeit im Volksmund Granatbrunnen genannt.

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